Tuesday, October 17, 2006

Deutsche Tageszeitungen im Dornröschenschlaf

Eine Sammlung von Netz-Artikeln, die sich mit dem Wandel des Medienkonsums am Anfang eines neuen Jahrtausends beschäftigen - primär auf den deutschen Raum bezogen.


Die Bundeszentrale für politische Bildung hat eine Online-Dokumentation zum Thema “Medien 2.0. Eine Zwischenbilanz. Konsumenten als Produzenten in Print-, Online- und Hörfunkmedien” fertiggestellt. Zu finden sind dort Interviews mit Medienwissenschaftlern, einem Blogger und einem Spiegel Online-Redakteur.

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Der Focus Magazin Verlag startet am 19. Oktober mit 'Focus-Campus' einen Ableger seines Nachrichtenmagazins 'Focus', der über das Netz erhältlich ist. Zielgruppe der neuen Line-Extension sind rund 1,9 Millionen Studenten, die als online-affin gelten. Der Titel mit einem Umfang von 40 bis 50 Seiten soll wöchentlich als interaktive PDF-Zeitschrift erscheinen und einen integrierten Internet-Auftritt besitzen.Die Zeitschrift wird allein durch Anzeigen-Erlöse finanziert.

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Der bloggende Handelsblatt-Redakteurs Thomas Knüwer fragt sich, wie viel Zeit deutsche Wirtschaftsjournalisten noch benötigen, bis sie begreifen, dass zum Studium der aktuellen Nachrichtenlage Internet-Weblogs dazu gehören.
"Erst berichten Weblogs, dann die klassischen Medien - diese Situation werden wir ab jetzt sehr viel häufiger erleben - vor allem bei Nachrichten rund um den Technikbereich, aber auch in Sachen Wirtschaft und Finanzen."
Sein aktuelles Beispiel ist der Google-Youtube-Deal:

"Es war eben nicht das "Wall Street Journal", das als erster von den Gerüchten um Google und Youtube Wind bekam - sondern Techcrunch.

Und auch die Verbreitung leisteten nicht klassische Medien, sondern Blogger. Es dauerte rund neun Stunden zwischen dem ersten Auftauchen der Meldung über Verhandlungen und dem Artikel in der Online-Ausgabe des "Wall Street Journal". Neun Stunden sind für die Internet-Szene verdammt lang, für ein klassisches Medium verdammt schnell - was darauf hindeutet, dass die Kollegen vom "WSJ" auch davon gehört hatten, aber noch nicht genügend Fakten hatten, um es zu schreiben. Vielleicht fühlten sie sich gar durch die Techcrunch-Meldung unter Druck gesetzt."

"Wer soll das alles lesen?", würden ihn Kollegen fragen, so Knüwer, wenn er sie auf die Entwicklungen im sogenannten "Citizen Journalism" aufmerksam mache. Knüwer antwortet: "Wir. Auch wenn's Mühe macht. Das Leben ist kein Ponyhof - erst recht nicht in den Medien."

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weiteres aktuelles Beispiel, wie investigative Weblogs ein Meinungsklima beeinflussen können:

Ein Blogger hat die Karriere der schwedischen Handelssministerin Maria Borelius beendet. Diese war erst acht Tage im Amt, als der freie Journalist Magnus Ljungkvist Unstimmigkeiten bei ihren Gebührenzahlungen an den öffentlichen Rundfunk nachweisen konnte und diese an die Tageszeitung Aftonbladet weiterleitete. Nachdem die Redakteure ihn jedoch abwiesen, veröffentlichte Ljungkvist die Geschichte auf seinem Blog. Die Zeitung Expressen wurde darauf aufmerksam, verkaufte sie als selbst aufgedeckten Skandal und die Ministerin trat ab.
Quelle
BBC berichtet hier

Schlagzeile, Tage später auf Aftonbladet mit dem Blogger groß im Bild:



Der schwedische Medienblog Media Culpa zitiert als Resumee der Geschichte Johan Norberg, vom Bloggforum 2004:
"The day blogs bring down a member of the parliament (Riksdag) or a Minister, then the blog has become established".

Weitere Folgen: nach dem Rücktritt der des Schwarzsehens überführten Ministerin wurden in der laufenden Woche 8000 neue Gebührenzahler registriert, darunter bekannte Namen aus Politik, Wirtschaft, Kultur.
Quelle: die taz

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Das Dienstleisterverzeichnis marketing-BÖRSE kommt in einer Studie mit über tausend Online-Marketing-Experten zu dem Schluss, dass Weblogs in der Branche kaum gelesen werden, und auch keinen Bedarf sehen, sich damit auseinander zu setzen. Torsten Schwarz, der Autor der Studie stellte fest, "Die wenigsten Menschen kennen dieses Web 2.0 oder ‚Mitmach-Web’ aus eigener Anschauung“, obwohl sie spätestens durch den Google-YouTube Deal alle davon erfahren haben. Nur 13 finden Gefallen daran, nur Wenige wissen um die meistgelesenen (und damit einflussreichsten) Blogs in Deutschland. „Weblogs sind weit davon entfernt, klassischen Fachmedien Konkurrenz zu machen“ schlussfolgert Schwarz.
Inwiefern diese Studie repräsentativ ist und wie genau die Forschungsmethode aussah, darüber schweigt sich die Marketing-Boerse allerdings aus.

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Milverton Wallace, einer der Pioniere des britischen Webjournalismus macht sich in einem längeren Essay mit der Überschrift "The new Corinthians: How the Web is socialising journalism" Gedanken über die Zukunft der Zunft:

"Digital media, and in particular, it's social offsprings - social media such as blogs, vlogs, wikis, IM; social networks such as MySpace, Facebook, Bebo, Tagworld, Orkut etc., and social bookmarking services such as Furl, Del.icio.us, DIGG, StumbleUpon, MyWeb - have enabled the amateurisation of the media. The barbarians have entered the gates. Is the empire on the verge of collapse?

Nowadays, the word "amateur" is being deployed by media professionals to belittle the media-making efforts of bloggers and others who create media productions outside the journalism guilds. Such reporting is deemed "unreliable", "biased", "subjective"; they are "unaccountable", the facts and the sources "unverifiable". (...)

It is hard for a mature, long-dominant culture to make radical changes to its ideology and practice. And that's why many newspaper groups still cling to the command and control model even as their businesses head for the butchers4 and their customers "head into the cemetery"[5]. Bold and adventurous though he is, Rupert Murdoch has only chosen co-optation (buying the number one social networking service MySpace); however, full embrace of the new world is a revolutionary step, a rupture in the old order. Anyone doubting the difficulty of such a move need only look at the upheavals and dislocations being experienced by the UK's Telegraph Groups as it re-engineers it news gathering/reporting processes towards a networked journalism model.

The momentum of change is with the new Corinthians. The open source ethos and method of work/production, which began in the periphery with collaborative software development, is moving to centre stage by way of the blogging revolution and open standards in web services. In tagging, syndication, ranking and bookmarking we have the rudiments of a peer-to-peer trust, reputation and recommendation system well suited to self-regulating collaborative networks[6]. These could be taken as analogous, but not identical to, the "checks and balances" of traditional journalism, but we shouldn't belabour the points of difference too much.

In mainstream media "editorial authority" is concentrated in the hands of a single, all-powerful person whereas in social media it is distributed among many voices. This could be seen as a weakness and critics point to it as the Achilles heel of Web journalism. Yet in many instances, the networked world, e.g. the blogosphere, has proven to be much better (and quicker) at correcting errors, falsity, lies and distortions than the mainstream media."

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Der beim Guardian bloggende Journalistik-Prof Roy Greenslade fasst eine Rede von Earl Wilkinson (International Newspaper Marketing Association) zusammen:

"But newspapers will not survive if they do not change, and change dramatically, because life has changed and is changing. The context has changed and become infinitely more complex. (...)

In taking all that on board, however, he has an abiding faith in print because his analysis of history tells him that papers have been rather good at holding on to readers over a long period of ebbs and flows and his perception of the fightback by newspaper publishers suggests they could stave off death. Newspapers are responding, he said, in what amounts to print's greatest era of experimentation, with the rise of free dailies, lite papers and the conversions of broadsheets into compacts (...)."

Wilkinson erklärte die Wichtigkeit von Marktnischen, stärkerer Zielgruppenorientierung, ein "one-size-fits-all super-product" mache jedoch wenig Sinn.

"Now he (Wilkinson) wants us to deconstruct the print product and, at the same, time enjoy the pleasures of reader-generated content or even to allow readers to decide what goes on the front page, as Los Ultimas Noticias in Chile does already. He stressed: "This citizen journalism will be just another source for journalism, it won't replace traditional journalism."
via

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weitere Reden zum Thema sind hier herunterladbar.

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Eine Konferenz in Hamburg zum Thema fasst Felix Schwenzel zusammen. (Klingt allerdings - mit Verlaub - etwas wirr und vermittelt wenig Neues.)

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Die Berliner Zeitung fing den Trend des Politikblogging am 08.08.2006 ein und schloss mit einem negativen Fazit für die Entwicklung in Deutschland:
"Natürlich war Amerika mal wieder schneller. Vor acht Jahren schon feierten dort Blogger ihren ersten Erfolg. Der Journalist Matt Drudge löste damals die Lewinsky-Affäre aus, weil das Magazin Newsweek sich weigerte darüber zu berichten. Drudge veröffentlichte die Geschichte auf dem republikanischen Weblog freerepublic.com. Das Ende der Geschichte ist bekannt, Präsident Bill Clinton musste sich peinlichsten öffentlichen Verhören stellen.
Deutschland jedoch hänge klar "hinterher". Die so genannte Blogosphäre dümpelt im eigenen Sumpf vor sich hin," nur während des Parteienwahlkampfes hätten sich die Politiker um ihre Internet-Tagebücher bemüht, danach tat sich nicht mehr viel. Auch die Internet-Nutzer seien in Deutschland noch nicht bereit auf die Onlineplattform umzuschwenken, wenn es um Parteipolitik geht. Selbst wenn Blogs aktive geführt würden, fänden sich selten Kommentare, die aber für diese Art der Kommunikation wichtig wären.
Es bestehe Handlungsbedarf, so das Blatt zum Abschluss, "der Blog-Soziologe Jan Schmidt glaubt, dass vor allem bei internetspezifischen Themen "Blogs Meinungen bilden und Initiativen anstoßen werden, vielleicht auch erste Versuche einer Lobbyarbeit formieren."

"Welche Wirkung ein Blog eines bekannten Politikers haben kann," so der Meinungsmacherblog in einer Kritik des Artikels, "sieht man zur Zeit in Polen, denn die polnische Blogosphäre, zugegeben, seit jeher eine der aktivsten und größten in Europa (siehe Loic Le Meurs Blogwiki), hat prominenten Zuwachs bekommen. Seit kurzem bloggt Warschaus Bürgermeister und Polens Ex-Ministerpräsidenten Kazimierz Marcinkiewicz. Nach vier Tagen hatte er bereits 340.000 Besucher, beeindruckende 6.200 Kommentare und rangiert auf Platz 1 aller Blogs der onet.pl-Plattform."


Jedoch mache der Politiker jede Menge Anfangsfehler, so bloggt er unter einer öffentlichen Domain, anstatt sich eine eigene zu suchen, die seriöser gewirkt hätte:
"Unangebracht ist auf jeden Fall die Bannerwerbung, die ab und zu im Blog erscheint. Sehr unglücklich ist ein Banner eines Urlaubsanbieters mit dem Text „In der Badewanne mit dem Entchen”. Das hier verwendete Wort „kaczuszka” kann man in Verbindung mit Polens führenden Politikern, den Zwillingsbrüder Jaroslaw und Lech Kaczynski, deren Partei „Recht und Gerechtigkeit” auch Marcinkiewicz angehört, bringen. Die Wörter wie „Ente” oder „Enterich” sowie Bilder, die den Familiennamen der beiden Brüder ironisieren, werden gerne in politschen Karikaturen und Debatten verwendet. Und die Werbung für Enthaarungscreme ist hier auch fehl am Platz."

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Ja, auch Herr Ahmadinejad hat bereits seinen eigenen Blog, wo er unter anderem persönliche Gebete an Allah veröffentlicht.

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Ein Artikel über das Videoblogging von Bundeskanzlerin Merkel in der Frankfurter Rundschau:
"Damit greift die 52-Jährige als weltweit erste Regierungschefin ein sehr junges Medium auf. Und bei aller Kritik wegen hoher Kosten und zunächst wenig transparenter Auftragsvergabe erntet Merkel dafür auch Lob: In der Nutzung neuer Medien ist sie nicht nur der Opposition eine Nasenlänge voraus, sondern lässt auch deutsche Unternehmen alt aussehen."

Prof. Dr. Ansgar Zerfaß, Professor für Kommunikationsmanagement an der Leipzig kommentiert ihren Video-Podcast im Interview mit dem Leipzig Blog.

Stimmen dazu auch in der Welt am Sonntag vom 30.07.2006:
"Merkel habe ein höheres "Kultpotential" als ihr Vorgänger Gerhard Schröder, sagt Smolak (Ivo Smolak ist ein Berliner Videoproduzent, der sich an einer Parodie über Merkels Show versucht hat) . Sie wirke vor der Kamera weniger professionell, aber dadurch auch authentischer. Daß die Kanzlerin nun bereits routinierter auftritt, bedauert Smolak: "Jetzt ist sie nicht mehr so leicht zu parodieren."
Ansgar Zerfaß, Professor für Kommunikationsmanagement in Leipzig, ist überzeugt, daß politische Videopodcasts künftig aus Wahlkämpfen nicht mehr wegzudenken sein werden. Durch ihre direkte Ansprache sollen sie Nähe zum Wähler erzeugen. "Für eine Volkspartei ist das zentral", sagt Zerfaß. Er findet Merkels Podcast-Pionierversuche "mutig und fortschrittlich", auch "wenn es noch einiges zu optimieren" gebe."

Eine Woche nach Merkel startete auch die Linkspartei ihren eigenen Podcast.

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Nach einer Studie des Mediatenor machen Online-Publikationen zunehmend Printerzeugnissen den Status als Leitmedien streitig:
Online-Medien und Qualität? In der Wahrnehmung vieler Leser beschränkt sich dies auf wenige journalistische Angebote, angeführt vom Leitmedium Spiegel Online. Doch die Hamburger Redaktion hat als Informationsgeber für Journalisten in der Netzeitung starke Konkurrenz bekommen.

Wie oft Online-Medien als Nachrichtenquellen von den deutschen Meinungsführermedien zitiert werden, ist ein Indikator für die Akzeptanz unter den Journalisten. Und bei diesem von Media Tenor untersuchten Indikator hat die Netzeitung 2005 Spiegel Online den Rang abgelaufen. Dieser Umstand und die wachsenden Zugriffszahlen belegen, daß sich die erste reine Internetpublikation im Nachrichtensegment mittlerweile unter den Top-Nachrichtenangeboten etabliert hat. Vor allem Tageszeitungen zitieren die Netzeitung und Spiegel Online häufiger. Im Media Tenor-Zitateranking liegen Online-Medien zwar weiterhin relativ deutlich hinter den führenden Agenda-Settern wie Spiegel, Bild-Zeitung sowie Bild am Sonntag oder Focus. Doch der signifikante Anstieg der Zitate von Spiegel Online, aber vor allem der Netzeitung verdeutlicht die zunehmende Relevanz von Internet-Medien als Agenda-Setter. Die Netzeitung wurde von Januar bis Oktober 2005 fast drei Mal so häufig (93 Mal) in den Politik- und Wirtschaftsteilen von 37 deutschen Meinungsführermedien zitiert wie im gesamten Jahr 2004 (34). Spiegel Online, mit 55 Zitaten im letzten Jahr noch klar vor der Netzeitung, konnte zwar ebenfalls deutlich auf 87 Nennungen zulegen, liegt aber mittlerweile hinter der Netzeitung.

Ein Interview mit Netzeitungs-Chefredakteur Michael Maier gibt es hier als pdf.

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